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Montag, den 12. Juni 1865
Zermatt
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Was bisher geschah
Als erstes führte mich meine Reise nach Zermatt, ein abgelegenes Dörfchen im Banne des majestätischen Matterhorns. Mir scheint, dieser Ort wird diesen Sommer noch eine tragende Rolle spielen. Im Monte Rosa stossen der Hotelbesitzer,
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Was bisher geschah
Als erstes führte mich meine Reise nach Zermatt, ein abgelegenes Dörfchen im Banne des majestätischen Matterhorns. Mir scheint, dieser Ort wird diesen Sommer noch eine tragende Rolle spielen. Im Monte Rosa stossen der Hotelbesitzer, Herr Seiler, und ich auf die bevorstehende Saison an.
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Das Matterhorn bleibt unbezwingbar
1864 vermutete Herr Seiler einige wenige Tage lang, dass das Matterhorn die Besteigung seines Gipfels schliesslich doch noch zulassen würde; eines Abends Mitte Juli erreichte nämlich der junge Edward Whymper gemeinsam mit Adolphus Moore das Dorf am Fusse des Matterhorns. Ihnen war die erste Überquerung des Moming-Passes von Zinal nach Zermatt mit ihren Bergführern Michel Croz aus Chamonix und Christian Almer aus Grindelwald gelungen. Whymper brannte darauf, den Gipfel dieses majestätischen Berges in Angriff zu nehmen. Sein Freund, Adams Reilly, war mit Bergausrüstung im Gepäck zu ihm unterwegs. Plötzlich erreichte Whymper jedoch ein Telegramm. Völlig verstört sei er gewesen, erzählt mir Herr Seiler, ein geschäftliches Problem habe ihn zur unverzüglichen Rückkehr nach London gezwungen. Whymper verliess Zermatt, bat Adams Reilly zuvor aber noch, einen Besteigungsversuch mit Croz zu wagen. Eine Regenfront hatte den Berg jedoch mit einer Eisschicht bedeckt und Adams Reilly hatte folglich nichts mehr mitzureden.
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Wer wird das Matterhorn zuerst besteigen?
Zu den vielversprechendsten Anwärtern auf einen Gipfelerfolg gehört sicherlich die Seilschaft von Charles Hudson, Thomas Stuart Kennedy und Joseph McCormick. Zehn Jahre Erfahrung – wenngleich meist auf Schneebergen und nicht im Fels – machen Hudson zu einem versierten Alpinisten. Kennedy brennt das Matterhorn nun schon seit vielen Jahren unter den Nägeln und mit seinem Versuch einer Besteigung im Januar 1862 warf er all unsere Vorstellungen und Theorien gründlich durcheinander; der Schnee im Winter, so Kennedy, könne das ermöglichen, was das Eis im Sommer verhindern würde. Letztlich musste er mit seinen Bergführern Peter Perren und Peter Taugwalder Vater jedoch umkehren, da sie aufgrund der grauenhaften Bedingungen fast erfroren wären. Und Reverend McCormick, ein herausragender Athlet, wird dank seiner Tätigkeit in der Pfarrei Grindelwald und später in Zermatt in den Genuss eines einzigartigen Sommers in den Alpen kommen. Ich glaube, dass John Birkbeck aus Yorkshire sie begleiten wird. Der junge Mann tritt in die Fussstapfen seines erfolgreichen Vaters und wird noch viel von sich hören lassen, auch wenn er 1861am Mont Blanc fast verunglückt wäre. Damals hatte es ihn zum ersten Mal in die Alpen verschlagen, wo er Reverend Hudson, einen Freund seines Vaters, begleitete. Seinen Mut hat der junge Birkbeck zweifellos bewiesen.
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Allerdings dürfte Whymper ein starker Konkurrent sein. Die Errungenschaften im Laufe seiner fünfjährigen Bergsteigerkarriere sind beeindruckend. Leider ist sein Freund Adams Reilly diesen Sommer vollauf mit Vermessungen für dessen Alpenkarten beschäftigt und wird Whymper auf seinem Abenteuer nicht begleiten können. Soweit ich weiss, konnte sich Whymper frühzeitig von seiner Arbeit als Holzstecher freistellen lassen und befindet sich nun, während ich diese Zeilen schreibe, bereits auf dem Weg in die Berge. Sein Geschäft hat für ihn hohe Priorität, daher muss ihm das Bergsteigen diesen Sommer wahrlich viel bedeuten. Solch eine Motivation erhöht sicherlich seine Aussichten auf einen Gipfelerfolg oder aber sie lässt ihn unvorsichtig werden. Die Zeit wird es zeigen. Whymper bricht von Lauterbrunnen aus auf, was mich vermuten lässt, dass ihm eine Erstbesteigung des Ebnefluhjochs vorschwebt.
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Adolphus Moore und Horace Walker sind diese Saison möglicherweise zwei der stärksten britischen Bergsteiger in den Alpen. Zudem haben sie einen Bergführer engagiert, von dessen Talent mit grösster Bewunderung gesprochen wird: Jakob Anderegg aus Oberwil im Simmental. Mir scheint jedoch, dass das Matterhorn für sie nicht von Interesse ist. Sie sind zurzeit auf dem Weg in eine Region der Schweiz namens Graubünden. Offensichtlich sind sie auf der Suche nach noch wenig erforschten Gefilden.
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Freitag, den 16. Juni 1865
Zinal
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Was bisher geschah
In Zermatt berichtete mir der Besitzer des Hotels Monte Rosa, Herr Seiler, von Whympers aufgegebener Hoffnung auf eine Besteigung des Matterhorns im vergangenen Juli. Dann erreichte mich die Nachricht, dass Whymper mit seiner 1865er-Mission
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Was bisher geschah
In Zermatt berichtete mir der Besitzer des Hotels Monte Rosa, Herr Seiler, von Whympers aufgegebener Hoffnung auf eine Besteigung des Matterhorns im vergangenen Juli. Dann erreichte mich die Nachricht, dass Whymper mit seiner 1865er-Mission bereits unterwegs sei und er bald schon in Zinal eintreffen würde. Schliesslich erlangte ich Kenntnis seiner Pläne.
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Der Beginn einer Mission
Das Dörfchen Zinal liegt auf einem hohen Bergvorsprung inmitten beeindruckender, unbestiegener Alpengipfel. Gestern traf Edward Whymper hier ein. Akribisch widmet er sich der Routenplanung sowie der Ausarbeitung einer Strategie für die erfolgreiche und eleganteste Überquerung der Alpen. Mich beschleicht das Gefühl, er verfügt über das erforderliche Geschick und die Energie, um einige der letzten und grössten bergsteigerischen Herausforderungen zu bewältigen.
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Die Rolle des Bergführers …
… verändert sich laufend. Waren es zu Anbeginn vor allem einfache Bergbauern, die unsere Ausrüstung und unseren Proviant trugen, Stufen in Eis und Schnee schlugen und ihr Handwerk in den Dienst unserer Besteigungen stellten, so findet man unter ihnen nun einige, die wahre Meister ihrer Zunft sind. Ihr bergsteigerisches Geschick und ihr unstillbarer Durst nach neuen Klettereien sind unter ihresgleichen unübertroffen. Michel Croz aus Chamonix ist einer dieser Meister.
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Daher ist Edward Whymper enttäuscht, dass ihm Croz nicht den ganzen Sommer über als Bergführer zu Diensten steht. Er bereut es, letztes Jahr nur ein vages Arrangement mit ihm getroffen zu haben, nicht mehr als ein paar knappe Worte bei ihrem Abschied in Visp. Es ist nicht verwerflich, dass Croz ein solideres Arbeitsangebot eines gewissen John Birkbeck aus Yorkshire angenommen hat. Er tritt diesen Dienst am 27. dieses Monats an.
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Fürs Erste jedoch ist Whymper in Begleitung des besagten Croz sowie zweier weiterer Herren, die wohl zu den besten ihres Handwerks zählen dürften: die Bergführer Christian Almer aus Grindelwald und Franz Biner aus Zermatt. Angesichts dieser starken Seilschaft wächst in mir der Verdacht, dass auch die hartnäckigeren Alpengipfel ihren Nimbus der Unbesiegbarkeit ablegen müssen und sich ergeben werden.
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Nächster Gipfel auf Whympers Liste: der unbestiegene Grand Cornier
Oder wurde dieser Gipfel bereits erklommen? Dies ist nicht eindeutig geklärt. Bei seiner Ankunft in Zinal entdeckte Whymper im Gästebuch seines Hotels einen Eintrag von Adolphus Moore, in dem dieser feierlich über eine Erstbesteigung des Grand Corniers schrieb, die ihm mit seinem Bergführer Franz Biner geglückt war! Misstrauisch wandte sich Whymper an Biner, der jedoch nur den Kopf schüttelte: „Entschuldigen Sie, mein Herr, wir dachten wir hätten den Gipfel erreicht, jedoch bin ich mir nun sicher, dass es nur eine Erhöhung auf der Route war.“
Am frühen Morgen, kurz nach zwei Uhr, brachen die vier heute auf. Ich freue mich schon darauf, von ihrem Versuch Bericht zu erstatten. Sie haben im Sinn, über eine neue und sehr riskante Route nach Zermatt zu queren. Danach, und da bin ich mir sicher, dürfte Whympers Blick Richtung Matterhorn schweifen. Viel Glück diesen unerschrockenen Männern!
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Donnerstag, den 22. Juni 1865
Val Tournanche
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Was bisher geschah
Mein Reisesommer begann in Zermatt und führte mich weiter nach Zinal, wo ich Edward Whymper traf. Seine Pläne für die folgenden Wochen sind umso ambitionierter, als ihm Michel Croz nur für kurze Zeit zu Diensten steht.
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Was bisher geschah
Mein Reisesommer begann in Zermatt und führte mich weiter nach Zinal, wo ich Edward Whymper traf. Seine Pläne für die folgenden Wochen sind umso ambitionierter, als ihm Michel Croz nur für kurze Zeit zu Diensten steht. Im Fokus auch das Matterhorn! Als ich also erfuhr, dass sich Whymper in Richtung Val Tournanche aufmachen würde, bin ich hierhergereist. Viele glauben ja, dass ein Triumph über das Matterhorn oder den „Monte Cervino“, wie ihn die Italiener nennen, von der italienischen Seite aus gelingen könnte.
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Grand Cornier erobert!
Edward Whymper gelang nicht nur die Erstbesteigung des mächtigen Grand Cornier, nein, er entschloss sich auch dazu, die Dent Blanche mit in Angriff zu nehmen. Natürlich wäre Letztere keine Erstbesteigung mehr, angesichts der Tatsache, dass Kennedy sich dank seiner legendären Saison 1862 mit deren Erstbesteigung rühmen darf. Als Zweiter den Gipfel eines anspruchsvollen Berges zu erklimmen ist nichtsdestotrotz eine beachtliche Leistung!
Jedoch … als ich vergangenen Montag – in Zermatt – einem Erfahrungsaustausch von Edward Whymper und Thomas Kennedy beiwohnte, erwähnte Whymper lobend den Steinmann, den Kennedy – so glaubte zumindest Whymper– auf dem Gipfel der Dent Blanche hinterlassen hatte.
„Oh nein, Sir“, entgegnete ihm Kennedy lachend, „1862 haben wir keinen Steinmann hinterlassen. Das muss der Gentleman gewesen sein, der letztes Jahr oben war“. So war Whymper also vielmehr der dritte Besteiger der Dent Blanche. Whymper beschreibt die Begehung als die bisher härteste Tour seines Lebens.
Auch Kennedys Augen sind auf das Matterhorn gerichtet; er möchte ebenfalls in dieser Saison noch eine Offensive wagen. Fürs Erste verbringt er jedoch gesellige Tage in Zermatt in Begleitung seiner Frau Gemahlin und ihrem abenteuerlustigen Hund. Am Sonntag wird er Zermatt verlassen und nach Chamonix reisen, wo er sich mit den Herren Hudson und McCormick treffen wird – die Mission kann beginnen!
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Die Nächte in einer abgebrannten Hütte
Whymper und seine Bergführer haben eine harte Alpenüberquerung von Zinal nach Zermatt hinter sich. Nach der Besteigung des Grand Cornier war es ihre Absicht, die Nacht im Weiler Abricolla zu verbringen. Sie fanden den Ort jedoch verlassen und die Alphütten ausgebrannt vor. Auf der Suche nach etwas Komfort stiegen Biner und Croz bis nach Evolène ab, Whymper und Almer hingegen verbrachten eine kalte Nacht in einer der Alphütten. Am nächsten Morgen waren sie etwas später wieder oben als vereinbart und waren nach der Besteigung der Dent Blanche gezwungen, erneut in Abricolla zu übernachten. Auch am folgenden Tag, einem Sonntag, starteten sie zu spät, da Biner zuallererst nach Evolène zur Messe musste. Ein fürchterlicher Sturm hatte zur Folge, dass sie im Kreise liefen, da ihnen Schnee und Nebel die Sicht auf der Route nahmen. Die Bergführer beschimpften sich gegenseitig als Dummkopf, da keiner von ihnen in der Lage war, den Weg zu finden. Erst beim dritten Versuch gelangten sie schliesslich nach Zermatt.
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Vorstoss am Matterhorn
Whymper und seine Begleiter erkunden seit geraumer Zeit die Möglichkeiten einer Besteigung entlang des Ostgrates, genannt „Hörnli“. Allerdings haben unvorhersehbare Schwierigkeiten wie der schwindende Gletscher sowie herabstürzende Steine bisher einen Erfolg verhindert. Biner und Almer machen den Eindruck, als ob sie sich allmählich entmutigen lassen. Zudem verstärken ihre missglückten Versuche den allgemein vorherrschenden Glauben, dass das Matterhorn tatsächlich unbezwingbar ist und immer sein wird.
Whymper kündigte den Rückzug an und ist nun mit seiner Truppe Richtung Mont Blanc unterwegs. Sie folgen wohl dem Ruf der noch unbezwungenen Aguille Verte.
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Freitag, den 30. Juni 1865
Chamonix
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Was bisher geschah
Edward Whymper und seine Bergführer Croz, Almer und Biner haben eine beeindruckende Tour durch die Berge zurückgelegt, mit einer Erstbesteigung des Grand Cornier, einer Drittbesteigung der Dent Blanche und einigen innovativen
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Was bisher geschah
Edward Whymper und seine Bergführer Croz, Almer und Biner haben eine beeindruckende Tour durch die Berge zurückgelegt, mit einer Erstbesteigung des Grand Cornier, einer Drittbesteigung der Dent Blanche und einigen innovativen Routen über Joche und Pässe. Sie versuchten einige anstrengende Tage lang, das Matterhorn von der italienischen Seite aus zu besteigen, jedoch ohne nennenswerten Erfolg. Nun scheint es, als begäbe sich alle Welt nach Chamonix.
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Erstbesteigung der Grandes Jorasses
Edward Whymper ist eine Erstbesteigung an den furchteinflössenden Grandes Jorasses gelungen! Eine herausragende Leistung, auch wenn er und seine Bergführer etwas frustriert darüber waren, lediglich den etwas niedrigeren Westgipfel des Berges erklommen zu haben. Der Grat zum Ostgipfel blieb ihnen verwehrt. Beim Abstieg zurück nach Courmayeur dann, müssen sie wohl nur knapp dem Tode entgangen sein. So war es denn der Schnee und nicht ihr eigener freier Wille, dem sie eine Rutschpartie und damit einen zügigen Abstieg zu verdanken hatten. Hätten sie es nicht geschafft, geschickt zur Seite zu springen, wären sie glatt über einen Felsvorsprung gefallen. Ich wage zu behaupten, dass alle immenses Glück hatten, mit dem Leben davongekommen zu sein!
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Überschreitung des Col Dolent
Whymper plante (obwohl er nicht daran glaubte, wie er mit seinem schelmischen Grinsen zugab), einen besseren Weg von Courmayeur nach Chamonix als über den für gewöhnlich begangenen Pass, den Col du Géant, zu finden. Seine Variante erschien mir weder einfach noch schnell und erforderte von den Bergführern beispiellose Höchstleistungen sowie jede Menge guter Hanfseile. Sieben Stunden harte Pickelarbeit waren nötig, um über ein mehr als 50° Grad steiles Eiscouloir abzusteigen. Überschwänglich lobte Whymper das Werk seiner Bergführer. Die bergsteigerischen Fähigkeiten dieser Männer werden künftig bei vielen unserer Kameraden gefragt sein.
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Erstbesteigung der Aguille Verte!
Edward Whymper, Christian Almer und Franz Biner erreichten als Erste die schneebedeckte Kuppe des Berges, von dem ich dachte, dass er allen Versuchen trotzen würde: die kolossale Aguille Verte. Zu Whympers Enttäuschung ist Croz‘ Verpflichtung nun beendet; dieser erwartet gegenwärtig die Ankunft von John Birkbeck in Chamonix. Laut Whymper war die Aussicht vom erhabenen Gipfel der Aiguille Verte die faszinierendste, die er je geniessen durfte. Auch war er beeindruckt von Almers meisterhafter Routenfindung, wobei dieser ein anderes Couloir gewählt hatte als Whymper zunächst vorgeschlagen hatte – ein voller Erfolg, wie sich herausstellte.
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Aufruhr! Die Guides de Chamonix und die „deutschen Bergführer“
Zu Ehren des Triumphs an der Aguille Verte wurden Kanonenschüsse abgefeuert und beim Empfang Whympers im Hotel floss der Champagner in Strömen. Doch während unseres festlichen Trinkgelages fiel die Stimmung im Dorf auf einen Tiefpunkt. Wüsteste Beschimpfungen fielen, als sich die Bergführer Chamonix‘ versammelten, um Biner und Almer zu attackieren, alsbald auch mit Schlägen. Sie nennen sie die „deutschen Bergführer“, die das Verbrechen begangen haben, „ihren“ Berg als Erste bestiegen zu haben. Wäre die Gendarmerie nicht unverzüglich auf Platz gewesen, so wäre die Situation wohl vollständig eskaliert.
Ich bedaure sehr, dass es zu einer derartigen Prügelei kommen musste. Wieso kann man sich in Chamonix nicht einfach über diesen heldenhaften Erfolg freuen, ungeachtet dessen, wer ihn errungen hat? Diese Erstbesteigung wird zahlreiche Besucher aus aller Welt anlocken, wovon alle profitieren werden. Die Rivalität zwischen diesen Dörfern ist bitterer als jene zwischen den Touristen, die diese Gipfel besteigen möchten.
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Die englische Bergsteigergilde versammelt sich
John Birkbeck und Reverend Charles Hudson haben London verlassen, im Gepäck auch einige Hilfsmittel wie eine Leiter und Drahtseile. Hudson glaubt, dass diese bei heiklen Kletterpassagen eine Hilfe sein könnten. Obwohl Reverend Hudson ernsthafte Bergtouren in Angriff nehmen möchte, wird er von zwei jungen Männern, den Herren Campbell und Hadow begleitet. In Hudsons Augen gehen körperliche Stärke und Gottesfurcht Hand in Hand und er freut sich darauf, seinen Zöglingen die wunderbare Welt der Alpen zu zeigen.
Morgen werden Kennedy und Whymper einen kleinen Spaziergang auf dem Gletscher unternehmen, um sich über Routen auf die Aiguille Verte zu beraten, da Kennedy auf eine Zweitbesteigung in den kommenden Tagen hofft. Ich frage mich in der Tat, ob die beiden sich auch über das Matterhorn austauschen werden. Wohl eher nicht.
Fürs Erste ist jedoch niemand mehr unterwegs. Das trübe Wetter zwingt uns zum Warten.
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Donnerstag, den 6. Juli 1865
Chamonix
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Was bisher geschah
Edward Whympers Palmarès an Erstbesteigungen wurde um den Gipfel der Aiguille Verte und den Grand Cornier erweitert – auch wenn seine Besteigungsversuche des Matterhorns von der italienischen Seite aus missglückten. Nun
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Was bisher geschah
Edward Whympers Palmarès an Erstbesteigungen wurde um den Gipfel der Aiguille Verte und den Grand Cornier erweitert – auch wenn seine Besteigungsversuche des Matterhorns von der italienischen Seite aus missglückten. Nun schliessen sich auch andere britische Bergsteiger seiner dynamischen Seilschaft an. Der Kameradschaftsgeist unter Bergsteigern wie Kennedy und Whymper ist gross, ganz im Gegensatz zur Rivalität zwischen den Dörfern, in deren Bergen wir uns bewegen. In Chamonix ist wieder Ruhe eingekehrt, jedoch fühlt es sich an, als ob jedes noch so kleine Vorkommnis diesen fragilen Frieden wieder zerstören könnte.
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Zweitbesteigung der Aiguille Verte
Reverend Hudson, Kennedy (und offenbar sein Hund) hatten ebenfalls die Besteigung der Aiguille Verte im Sinne. John Birkbeck hätte mit von der Partie sein sollen, wurde jedoch auf seiner Reise in die Berge krank und musste nach England zurückkehren. Somit übergab er das Arrangement, das er mit Croz getroffen hatte, an Hudson. Gestern erreichte – nach der Erstbesteigung Whympers ein paar Tage zuvor – mit den Herren Hudson, Kennedy und deren Freund Hodgkinson, ihren einheimischen Bergführen Croz, Ducroix sowie dem Zermatter Peter Perren die zweite Seilschaft den Gipfel der Aiguille Verte. Natürlich blieben Kennedys Gemahlin und Hudsons Zöglinge Hadow und Campbell in Chamonix zurück, um ihnen von dort aus mit riesigen Fernrohren bei der Besteigung zuzusehen.
Sie wählten eine etwas andere Route als Whymper vergangene Woche, stiegen über einen Felsgrat namens „Arrète du Moine“ auf. Alle sechs (ausser Kennedys Hund, der wohl als erster Vierbeiner auf diesem Gipfel gewesen sein dürfte) waren beim Abstieg am selben Seil eingebunden; Croz ging voran, Hudson machte den Schluss. Eine Taktik, die bei heiklen Felspassagen immer häufiger angewandt wird.
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Änderungen in der Seilschaft
John Birkbecks Pläne für diesen Sommer wurden also leider zunichtegemacht. Reverend Joseph McCormick, ein guter Freund von Hudson, hatte ursprünglich ebenfalls geplant, bei der Besteigung der Aiguille Verte dabei zu sein. Er musste jedoch von Grindelwald anreisen, wo er zwei Wochen lang als Pfarrer tätig war. Nach Abhaltung des Sonntagsgottesdienstes hatte er das Dorf gegen Mitternacht verlassen, um bei der Besteigung dabei sein zu können. Nach einer dreissigstündigen Reise erreichte er Argentière, wo ihn jedoch eine Nachricht von Hudson erwartete, dass sie von Chamonix aus starten würden. Zu guter Letzt holte er das Grüppchen noch ein, war jedoch von den Strapazen der Reise derart geschwächt, dass er mit Hadow und Kennedy umkehren musste. Sie hatten den Punkt erreicht, an dem die schwächeren Mitglieder der Seilschaft nicht mehr weitergehen würden.
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Hudson und Kennedy werden ihre Zeit mit weniger ehrgeizigen Abenteuern verbringen und die Schneeflanken des Mont Blancs erklimmen. Der junge Hadow ist überglücklich, dieses Mal bei einem Gipfelversuch dabei sein zu dürfen. Sein erster Besuch in den Alpen war im vergangenen Jahr; jedoch sass er damals tagelang am Riffel oberhalb von Zermatt bei Schlechtwetter fest. Während seines gesamten Aufenthalts liess sich das grandiose Matterhorn nicht ein einziges Mal blicken. Er hofft, dieses Mal mehr Glück zu haben.
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Entdeckung eines weiteren Passes
Am Montag verliess Edward Whymper Chamonix, um eine neue, schnellere und kürzere Route nach Courmayeur zu finden. Glücklicherweise startete er zur exakt selben Zeit wie sein englischer Bergsteigerkamerad Arthur Girdlestone, der die gewohnte Route über den Col du Géant nimmt. Wir sind gespannt zu erfahren, wer wohl als Erster Courmayeur erreichen wird. Auch ich werde Chamonix verlassen, um in Erfahrung zu bringen, was andernorts in den Alpen geschieht.
Vergangene Woche gelang den Herren Moore und Walker die Erstbesteigung des Piz Roseg – eine Leistung, die nicht nur ganz Pontresina in Erstaunen versetzt hat! Als nächstes planen die beiden irgendwie nach Zinal zu gelangen, mit weiteren Gipfeln in Aussicht.
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Donnerstag, den 11. Juli 1865
Breuil
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Was bisher geschah
Das Bergsteigen erreicht diesen Sommer mit der Eroberung unberührter Gipfel und Pässe durch eine Handvoll unerschrockener Bergsteiger neue Höhepunkte. Edward Whymper gelang gemeinsam mit Almer und Biner die Erstbesteigung
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Was bisher geschah
Das Bergsteigen erreicht diesen Sommer mit der Eroberung unberührter Gipfel und Pässe durch eine Handvoll unerschrockener Bergsteiger neue Höhepunkte. Edward Whymper gelang gemeinsam mit Almer und Biner die Erstbesteigung der furchteinflössenden Aiguille Verte. Bald schon folgten Hudson, Kennedy und Hodgkinson, geführt von Croz, Ducroix und Peter Perren, seinen Spuren auf diesen Gipfel. Whymper hat das Tal um Chamonix verlassen, um einen neuen Pass über die Wasserscheide zu finden, die die Grenze zu Italien und Courmayeur bildet. Nun sind jedoch alle Augen auf das Matterhorn gerichtet und auch andere Bergsteiger möchten hier ein Wörtchen mitreden.
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Whympers nächster Schachzug
Für die Traverse über einen neuen Pass, den Col de Talèfre, von Chamonix nach Courmayeur benötigten Whymper, Almer und Biner atemberaubende zehn Stunden – das muss Rekord sein! Auf dem Weg nach Val Tournanche haben sie zudem den Gipfel der unbestiegenen Ruinette erklommen. Keiner der Bergführer ist jedoch beherzt genug für einen Versuch am Matterhorn. Also suchte Whymper Jean-Antoine Carrel auf, der ein paar Tage Zeit zu haben schien. Carrel ist einer der wenigen Bergführer, der mit der Stärke und dem Geschick gesegnet ist, die es am Matterhorn erfordert. Was vielleicht noch wichtiger ist: Carrel glaubt daran, dass der stolze Berg tatsächlich bestiegen werden kann. Von den Zermatter Führern scheinen nur Peter Perren und Peter Taugwalder Vater diesen Glauben zu teilen.
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Ich ahnte jedoch etwas …
Im Dorf wurde gemunkelt, dass Carrel mit seinem Bruder und einigen Einheimischen erst vergangenen Donnerstag eine beachtliche Höhe an ihrem Monte Cervino erreicht hatte, bevor ein schreckliches Unwetter sie zur Umkehr zwang. Dann kam eine immense Karawane mit Maultieren und Trägern an, mit Paketen, die verdächtig nach schlecht getarnter Kletterausrüstung aussahen. Diese Prozession wurde von keinem geringerem begleitet als von Signor Giordano. Aber weder erkannte Whymper diesen Gentleman, noch ist er der italienischen Sprache soweit mächtig, als dass er das Gemurmel im Dorf verstehen würde. Im Gegensatz zu mir.
Signor Felice Giordano ist der Begründer des Club Alpino Italiano, dessen Mitglieder ihr Herz daran hängen, eine Heldentat zu vollbringen, die ihrem Land Ruhm und Ehre verschafft. Letztes Jahr habe ich ihn in Zermatt angetroffen. Ich vermute, dass er damals das Matterhorn zu diesem besonderen Ziel auserkoren hat. Carrel ist ein Patriot. Angesichts all dieser Faktoren fürchte ich, dass die Dinge nicht ganz so sind, wie Whymper zu glauben scheint.
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Carrels Pläne
Whymper verbrachte die folgenden Schlechtwettertage mit der Vorbereitung für einen, wie er glaubte, möglicherweise erfolgreichen Besteigungsversuch. Heute am frühen Morgen zog Carrel jedoch los, um den Monte Cervino zum Ruhme Italiens zu besteigen. Er wird dabei für Sig. Giordano vom Club Alpino Italiano, von dem er stets gefördert wurde, mithilfe von Fixseilen einen Weg zum Gipfel bahnen. Mehr konnte ich nicht in Erfahrung bringen, denn Sig. Giordano hält sich in seinem Zimmer versteckt, um sicherzugehen, dass Whymper nichts von seinem Plan erfährt.
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Neue Ziele am Matterhorn – auf Schweizer Seite!
Nach seiner Enttäuschung schien es, als ob Whymper in Italien festsässe. Es liessen sich keine Bergführer oder Träger finden. Alle arbeiteten sie entweder für Carrel oder waren plötzlich – was äusserst rätselhaft war – mit besonders wichtigen Angelegenheiten wie der Käseherstellung oder der Murmeltierjagd beschäftigt. Dann, als die ersten Sonnenstrahlen das Tal wieder erhellten, kam eine Gruppe Männer über den Theodulpass. Es waren dies Lord Francis Douglas aus dem Queensberry Clan und ein Träger aus Zermatt, Joseph Taugwalder. Lord Francis kundschaftet die italienische Seite aus, mit dem Ziel, im nächsten Jahr selbst sein Glück am Matterhorn zu versuchen.
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Für sein zartes Alter von nur 18 Jahren ist Lord Francis Douglas ein starker und talentierter junger Mann. Letzte Woche bestieg er das Obergabelhorn, zusammen mit Joseph Taugwalders Vater, Peter Taugwalder. Er hatte auf eine Erstbesteigung gehofft, jedoch kann ich berichten, dass dies ein paar Tage zuvor bereits Adolphus Moore und Horace Walker geglückt war. Lord Francis und Whymper verstanden sich vom ersten Moment an blendend und unterhielten sich den ganzen Nachmittag lang prächtig. Dabei wurde eine Idee geboren. Auf zum Matterhorn, und zwar schleunigst!
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Carrels Taktik erfordert ein hohes Mass an Vorarbeit, die sein Vorankommen verzögern wird. Es dürfte Whymper und Lord Francis möglich sein, die Italiener zeitlich noch einzuholen. Sie werden nach Zermatt hinübersteigen und den alten Peter Taugwalder in ihre Seilschaft holen. Ich werde die Alpinisten über den Pass begleiten. Morgen Abend werden wir in Zermatt eintreffen.
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Freitag, den 14. Juli 1865
Zermatt
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Was bisher geschah
In Chamonix feierte man mit Kanonenschüssen und Champagner die erste und zweite Besteigung der Aiguille Verte. Nun sind alle Augen auf das Matterhorn gerichtet. Der Bergführer Jean-Antoine Carrel zieht die Fäden für
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Was bisher geschah
In Chamonix feierte man mit Kanonenschüssen und Champagner die erste und zweite Besteigung der Aiguille Verte. Nun sind alle Augen auf das Matterhorn gerichtet. Der Bergführer Jean-Antoine Carrel zieht die Fäden für einen Gipfelangriff von Italien aus und ist bereits am Berg. Edward Whymper und Lord Francis Douglas hat der Zufall in Breuil zusammengeführt; nun sind sie nach Zermatt gekommen, um einen Versuch von der Schweizer Seite aus zu starten, bei dem sie die Italiener womöglich hinter sich lassen könnten. Noch wissen wir nichts über den Standort der anderen Seilschaft um Charles Hudson, Thomas Kennedy und Joseph McCormick, die ebenfalls den Berg bezwingen möchten, der sich bisher so vielen Gipfelaspiranten widersetzt hat.
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Das Matterhorn ist erobert!
Vor exakt einer Stunde standen die tapferen Männer, die Zermatt gestern bei Morgendämmerung verlassen hatten, auf dem Gipfel des Matterhorns! Noch beim Mittagstisch stürmte alles auf die Strasse, um dieses Schauspiel mit eigenen Augen zu sehen. Oben auf dem Gipfel standen sieben Mann, einer der jungen Taugwalder musste also auch mit von der Partie sein. Welch ein Tag für diesen jungen Burschen!
Wie lange sie für den Abstieg benötigen werden, darüber können wir nur spekulieren, jedoch wird ihre Ankunft gewiss mit dem grössten Fest gefeiert werden, das dieses Dorf je gesehen hat.
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Eine zufällige Abfolge von Ereignissen
Aus der zufälligen Begegnung von Whymper und Lord Francis Douglas in Breuil entstanden die Pläne zum sofortigen Aufbruch zu einem Gipfelversuch. Sogleich wurde auch der alte Peter Taugwalder als Bergführer verpflichtet. Dann, als wir gerade beim Abendbrot im Monte Rosa sassen, trudelte ausgerechnet Charles Hudson in Begleitung des jungen Douglas Hadow ein. Ich hatte die beiden bereits in Chamonix angetroffen. Nun unterhielten sie sich angeregt über eine Matterhornbesteigung.
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Willkürliches Planen
Hudson und Whymper hatten sich also zusammengetan! Whymper erklärte, er halte zwei einzelne Seilschaften am Berg für töricht, dadurch würde die Unternehmung nur gefährlicher. Dann stellte sich heraus, dass Croz noch immer im Dienste von Hudson war. Erneut mit diesem bewundernswerten Bergführer unterwegs sein zu dürfen, spornte Whymper besonders an. Hudson schien plötzlich zur Eile zu drängen. Whymper sprach seine Zweifel aus, den unerfahrenen Hadow bei diesem Unterfangen mitzunehmen, man versicherte ihm jedoch – wie er mir erzählte – dass Hadows beachtliche Leistung am Mont Blanc gezeigt hätte, dass er dieser Unternehmung gewachsen sei.
In den frühen Morgenstunden verliess die Truppe gestern das Dorf Richtung Schwarzsee, wo ein Halt eingelegt werden sollte und Whymper Vorräte gelagert hatte, darunter auch eine Vielzahl unterschiedlicher Seile. Whymper kannte einen Felsvorsprung, auf dem sie die Nacht verbringen würden, um am heutigen Morgen den Angriff auf den Gipfel zu wagen. Das Wetter war geradezu perfekt.
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Das Schicksal zieht die Fäden der Geschichte
Es hätte so einfach auch eine andere Seilschaft den heutigen Gipfelerfolg erringen können. Reverend Joseph McCormick erreichte Zermatt heute früh, um sein Pfarramt anzutreten UND um mit Charles Hudson einen Gipfelversuch am Matterhorn zu wagen. Hätte sich der Reverend auf seiner Reise nach Zermatt nicht aufgrund des schlechten Wetters verspätet und wäre Kennedy seiner Geschäfte wegen nicht zur Rückkehr nach London gezwungen gewesen, würden sie womöglich nun auf dem Gipfel stehen. Kennedy ist einer unserer verwegensten Alpinisten und es ist wirklich zu bedauern, dass seine Bergsteigersaison zu Ende ist. Auch sein mutiger Bergführer, Peter Perren, ist schwer enttäuscht, dass ihre Pläne zunichte sind.
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Ein weiterer Grund zum Feiern
Adolphus Moore und Horace Walker haben es vor ein paar Tagen mit ihrem Bergführer Jakob Anderegg auf den Gipfel der Pigne d’Arolla geschafft. Welch ruhmreicher Sommer!
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Carrel und die italienischen Bergsteiger …
… müssen wohl vom Schnee eingebremst worden sein. Es scheint, als ob sie nächtelang in ihren Zelten auf ihrer Seite des Berges verharrten, ohne jegliches Vorankommen.
Post 8
Sonntag, den 16. Juli 1865
Zermatt
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Was bisher geschah
Zwei Gipfelversuche am Matterhorn! Jean-Antoine Carrel war als Erster aufgebrochen, jedoch war ein schnelles Vorankommen aufgrund all der Ausrüstung, die er für einen Sieg des Club Alpino Italiano benötigte, unmöglich.
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Was bisher geschah
Zwei Gipfelversuche am Matterhorn! Jean-Antoine Carrel war als Erster aufgebrochen, jedoch war ein schnelles Vorankommen aufgrund all der Ausrüstung, die er für einen Sieg des Club Alpino Italiano benötigte, unmöglich. Zudem erschwerte auch der Neuschnee das Unterfangen. Eine Reihe zufälliger Ereignisse hatte Edward Whymper, Lord Francis Douglas und Charles Hudson zusammengeführt, die ihr Glück von der Schweizer Seite her versuchten. Gestern war es dann so weit – der Triumph auf der Schweizer Route über den Ostgrat war errungen! Edward Whymper, Michel Croz, Lord Francis Douglas, Douglas Hadow sowie Peter Taugwalder Vater und Sohn waren die ersten Menschen auf dem Gipfel des Matterhorns.
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Tragödie am Matterhorn
Unsere Feierlichkeiten gingen in tiefe Trauer über, unsere Freude wurde zu Kummer. Drei tapfere englische Gentlemen und ein hoch angesehener französischer Bergführer haben ihr Leben an diesem unbeugsamen Berg verloren, der auf seine Unbezwingbarkeit pochte und sich nun bei jenen rächte, die es gewagt hatten, zu seinem Gipfel vorzudringen.
Einzig Edward Whymper und die beiden Schweizer Bergführer kehrten zurück, jedoch erst einen Tag nach ihrer siegreichen Besteigung. Reverend Charles Hudson, Lord Francis Douglas, Douglas Hadow und Michel Croz hingegen waren allesamt in den Tod gestürzt.
Nun, bislang kann ich über das Geschehene nichts Genaueres berichten. Mir ist weiter nichts bekannt, als dass die Männer beim Abstieg angeseilt waren und dass ihnen etwas widerfahren sein musste, das die vorderen Vier in den Tod stürzen liess. Die hinteren Männer wurden durch einen Riss des Verbindungsseils verschont. Ich werde all dem auf den Grund gehen.
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Das Vorgehen nach der Tragödie wird in die Hände der Gemeinde gelegt
Bei seiner Rückkehr ins Dorf sprach Whymper zunächst mit Herrn Seiler. Dieser wandte sich an den Zermatter Gemeindepräsidenten, Herrn Welschen, der unverzüglich einen Suchtrupp losschickte, um nach den Leichen zu suchen. Zwanzig Bergführer zogen los, sie erspähten die sterblichen Überreste jedoch nur aus der Ferne, da ein weiteres Vordringen zu gefährlich gewesen wäre.
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Drei Leichname geborgen
Whymper wollte noch in der Nacht aufbrechen, bevor die warmen Sonnenstrahlen die Seracs erreichen würden.
Zermatter Bergführer konnten ihn keine begleiten, da sie Sonntagfrüh zur Messe mussten. Daher brachen Reverend McCormick und zwei weitere Bergsteiger, die Gentlemen Robertson und Phillpotts, mit Bergführern aus Chamonix, St. Niklaus und Saas auf. Wie mir zu Ohren kam, sind die Zermatter Obrigkeiten ob dieser inoffiziellen Aktion höchst unerfreut.
Sie haben die Leichen gefunden. Reverend McCormick schilderte mir den Schauplatz des Dramas. Whymper hingegen, vollends aufgelöst, spricht mit niemandem und hält sich meist in seinem Zimmer auf. Meinen Lesern werde ich die grausamen Einzelheiten über den Zustand der leblosen Körper ersparen. Drei von ihnen lagen nebeneinander. Reverend McCormick las aus Charles Hudsons Gebetsbuch, das auf wundersame Weise in dessen Tasche unversehrt geblieben war. Sie begruben die sterblichen Überreste im Schnee. Die Leiche von Lord Francis Douglas jedoch, der so grausam in der Blüte seiner Jugend aus unserer Mitte gerissen wurde, blieb unauffindbar. Der arme Kerl musste wohl weiter oben in den erbarmungslosen Felsen der Nordwand liegen.
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Die Entstehung eines Mythos‘
Nun, ich habe keine genauen Informationen zur Tragödie und auch sonst kaum jemand, scheint es mir. Jedoch verhindert dies keineswegs, dass die Gerüchteküche in den Strassen Zermatts geradezu brodelt. Allerdings weiss ich nicht, woher die Gerüchte kommen. Vielleicht von den Bergführern aus Chamonix, die den Suchtrupp begleitet haben? Ich wüsste nicht, was Peter Taugwalder Vater getan haben könnte, das den Verdacht entstehen liesse, er hätte das Seil durchgeschnitten. Ist dies etwa eine berechtigte Reaktion angesichts seiner Position am Seil zum Zeitpunkt des Unfalls oder ist es Unwissenheit, Neid oder Hetzerei? Vieles bleibt hier noch ungewiss.
Post 9
Donnerstag, den 20. Juli 1865
Zermatt
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Was bisher geschah
Ein Sommer voller bergsteigerischer Höhepunkte endete in einer Tragödie, als vier der sieben Männer, die als erste den Gipfel des Matterhorns bestiegen hatten, beim Abstieg in den Tod stürzten. Einzig Edward Whymper
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Was bisher geschah
Ein Sommer voller bergsteigerischer Höhepunkte endete in einer Tragödie, als vier der sieben Männer, die als erste den Gipfel des Matterhorns bestiegen hatten, beim Abstieg in den Tod stürzten. Einzig Edward Whymper und die Zermatter Bergführer Peter Taugwalder Vater und Sohn kehrten nach Zermatt zurück. Die sterblichen Überreste der britischen Bergsteiger Charles Hudson und Douglas Hadow sowie des französischen Bergführers Michel Croz wurden nahe der Stelle, an der man sie auffand, im Schnee begraben. Die Leiche von Lord Francis Douglas wurde nicht gefunden. Bald schon entstanden im Dorf und darüber hinaus die wildesten Gerüchte zur Unfallursache.
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Nach der Tragödie
Das Wetter verschlechterte sich und ein Wind, den die Einheimischen die „Bise“ nennen und der durch Mark und Bein dringt, setzte ein und brachte heftige Regenfälle mit sich – was Schnee in den Bergen bedeutete. Ich bleibe in Zermatt, obwohl die Stimmung hier ebenso düster ist wie der Himmel, und werde versuchen, etwas Licht ins Dunkel der zahlreichen Spekulationen zur Tragödie am Matterhorn zu bringen. Es heisst, es würde eine Untersuchung von offizieller Seite geben, aber wann das sein wird, weiss keiner.
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Es stellte sich nun die traurige Aufgabe, die Verwandten der Opfer zu informieren. Robertson schickte der Witwe von Charles Hudson eine Haarlocke ihres Mannes. Whymper hütet Michel Croz’ Kruzifix, um es dem Bruder des Verstorbenen zu übergeben. Whymper versichert uns, dass ein Bergschuh, der an der Stelle des Grauens gefunden wurde, an der man auch die Opfer vergraben hatte, Lord Douglas gehören würde. Es ist ausgeschlossen, dass er noch am Leben ist und womöglich irgendwo auf einem dieser schicksalhaften Felsvorsprünge ausharrt. Es gibt keine Hoffnung mehr.
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Die Zermatter Gemeinde sprach sich dagegen aus, die Verstorbenen im Schnee begraben liegen zu lassen und bot eine Truppe starker Bergführer auf, welche die leblosen Körper zurück ins Tal bringen sollte. Morgen sollen sie beerdigt werden.
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Worte reisen
Ich muss eine fehlerhafte Darstellung des Journal de Genève berichtigen, wonach Lord Francis Douglas ausgerutscht sein und die anderen Männer mit sich gerissen haben soll. Whymper und die beiden Taugwalders sind sich darin einig, dass es der unglückliche Douglas Hadow war, der ausgerutscht ist.
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Reverend McCormick hat ein Schreiben an die Times verfasst in der Absicht, die ahnungslosen Stimmen, die das vermeintlich Geschehene in die Welt posaunen, zum Schweigen zu bringen. Es handelt sich dabei um eine schnörkellose Aufzählung der Geschehnisse, bei der Whymper – soweit ich weiss – besonders darauf bedacht war, auf die Gefühle der Angehörigen Rücksicht zu nehmen. Allerdings beunruhigt mich das auch, denn seine schlichte Aufzählung der Geschehnisse am Berg hinterlässt Lücken in der Geschichte, und meiner Erfahrung nach werden Lücken rasch mit wilden Spekulationen gefüllt. Aus Mythen werden Tatsachen.
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Das gerissene Seil
Es scheint mir, dass das Seil, das den alten Peter Taugwalder mit Lord Francis verband, von schlechterer Qualität war und unmöglich vier stürzende Männer hätte aushalten können. Es kursiert die Frage, weshalb ausgerechnet dieses Seil verwendet wurde, und selbstverständlich hat man auch gleich die passenden Antworten parat: entweder, so das eine Gerücht, es war absichtlich ein schwächeres Seil benutzt worden, oder aber, so das andere Gerücht, es waren zu wenige von den solideren Seilen vorhanden gewesen. Aber niemand im Dorf möchte sich mir gegenüber dazu äussern, sodass ich die Quelle dieser Gerüchte nicht ausmachen kann.
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Welche Pläne hatte Hudson verfolgt?
Man zeigte sich überrascht darüber, dass man den jungen Douglas Hadow bei einer derart ehrgeizigen Besteigung mitgenommen hatte. Trotz seiner jugendlichen Stärke und seines unerbittlichen Willens war er doch noch schrecklich unerfahren. In meinen Gesprächen mit Reverend McCormick kam zutage, dass Hudson geplant hatte, die Ankunft von Kennedy und McCormick abzuwarten, um dann zu einem Gipfelangriff mit der speziellen Leiter und den Drahtseilen aufzubrechen. Letztere wurden jedoch zurückgelassen und stattdessen nahm man Hadow mit. Möglicherweise sah Hudson diese Exkursion als eine Art Erkundungstour. Wir werden es wohl nie erfahren.
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Noch mehr Leid
Diese gnadenlosen Berge haben noch ein weiteres Opfer gefordert: Gestern wurde der leblose Körper von William Knyvet Wilson, der mit Robertson und Phillpotts angereist war – allesamt Dozenten an der Rugby School – am Fusse des Riffelhorns gefunden.
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Möglicherweise die Besteigung des Jahres
An dem Tag, als die schreckliche Tragödie Zermatt in tiefe Trauer stürzte, konnte an einem anderen mächtigen Gipfel eine grossartige Leistung gefeiert werden. Einige unserer verwegensten Bergsteiger fanden einen Route über das Labyrinth des Brenva-Gletschers von Courmayeur aus und es gelang ihnen die höchste Überschreitung des Mont Blanc. Ich fürchte, dass die verdiente Anerkennung für diese Leistung von der Tragödie am Matterhorn überschattet wird. Dennoch ein Hoch auf diese aussergewöhnliche Seilschaft: Adolphus Moore, Horace und Frank Walker, George Mathews sowie ihre Bergführer, die Cousins Melchior und Jakob Anderegg.
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Die Zweitbesteigung
Am Montag erreichte Jean-Antoine Carrel mit seinem Bergführerkollegen Jean-Baptiste Bich von Breuil aus den Gipfel des Matterhorns. Nun, da die Besteigung von beiden Seiten erfolgreich war, wird das Blutvergiessen an den Felsen dieses Berges vielleicht endlich ein Ende finden.
Post 10
Montag, den 24. Juli 1865
Zermatt
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Was bisher geschah
Die leblosen Körper von drei der vier Männer, die beim Abstieg vom Matterhorn zu Tode stürzten, wurden zur Beisetzung nach Zermatt gebracht. Die Leiche von Lord Francis Douglas konnte nicht gefunden werden. Edward Whymper
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Was bisher geschah
Die leblosen Körper von drei der vier Männer, die beim Abstieg vom Matterhorn zu Tode stürzten, wurden zur Beisetzung nach Zermatt gebracht. Die Leiche von Lord Francis Douglas konnte nicht gefunden werden. Edward Whymper konnte davon überzeugt werden, mit Hilfe von Reverend McCormick einen Brief an die Times zu verfassen, um den Gerüchten, die sich wie ein Lauffeuer ausbreiteten, den Nährboden zu nehmen. Allerdings hielt er sich in seinen Ausführungen aus Rücksicht auf die Gefühle der Angehörigen zurück.
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Beginn der Untersuchung von offizieller Seite am Freitagnachmittag
Die Untersuchung ist bereits vorbei. Ein Mantel des Schweigens scheint Gerichtsverfahren und Urteil zu umhüllen. Dass die Tragödie die Folge eines unglücklichen Unfalls war, wofür niemand verantwortlich gemacht werden kann, scheint alles zu sein, was die Öffentlichkeit darüber wissen muss. Der Gerichtsvorsitzende, Herr Clemenz, ist ausserdem Besitzer des Hotel Mont Cervin und seine Motivation wird gross sein, diesem Fall endlich ein Ende zu setzen, um nicht weiter Touristen von einem Besuch abzuhalten.
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Vor der Vernehmung erhielt Whymper eine Liste mit Fragen. Ich bin mir nicht sicher, ob dies in der Schweiz eine gängige Praxis ist, aber ich war darüber äusserst verwundert! Noch merkwürdiger: Man hatte Whymper gebeten, Fragen an Peter Taugwalder Vater vorzubereiten. Als einzige weitere Zeugen wurden die Bergführer Franz Andenmatten aus Almagell und Alexander Lochmatter aus St. Niklaus geladen. Beide hatten Whymper an dem Tag begleitet, als sie die Leichen fanden und diese im Schnee vergruben. Der junge Peter Taugwalder hatte bereits die Erlaubnis erhalten, Zermatt zu verlassen, um eine Verpflichtung in Chamonix wahrzunehmen. Natürlich kann man nur darüber spekulieren, was hinter verschlossenen Türen vor sich ging. Ich erhielt jedoch einen flüchtigen Einblick in die Aufzeichnungen und diese wiesen nur geringfügige Abweichungen von den bereits im Vorfeld angefertigten Fragen und Antworten auf.
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Geheimniskrämerei entfacht die Gerüchteküche
Klatsch bringt allerhand Einfallsreichtum mit sich. Die am meisten verbreitete Geschichte ist wohl, dass das Seil gar nicht gerissen ist, sondern arglistig durchgeschnitten wurde. Manche sehen Peter Taugwalder Vater als den Täter, andere Edward Whymper. Die Anstrengungen zur Erbringung der entsprechenden Beweise für die jeweilige Theorie wären beinahe amüsant, wäre die Angelegenheit nicht so ernst. Die Beschuldigten selbst machen keinerlei Andeutungen, den jeweils anderen als Mörder zu bezichtigen. Von Whympers Seite her meine ich eine gewisse Spannung gegenüber den Taugwalders zu verspüren, jedoch versichert er mir, dass dies keineswegs mit der Ursache des Unfalls zu tun habe.
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Es gibt meines Erachtens jedoch eine Frage, die wohl weit wichtiger als all das Gemunkel über Eispickel oder Messer ist: Aus welchem Grund hatte man ein bestimmtes Seil, schwächer als die anderen Stricke, zwischen dem alten Peter Taugwalder und Lord Francis Douglas benutzt? Whymper hat mir erklärt, dass das dünnere Seil als Fixseil für die schwierigeren Passagen des Abstiegs gedacht war. Weshalb man es schliesslich doch nicht dafür benutzt hatte, kann er nicht sagen. Es scheint mir, als habe das Hochgefühl des Augenblicks eine Rolle bei solch grober Nachlässigkeit gespielt.
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Whymper hat mir erzählt, dass er einige der Fragen so formuliert gehabt hätte, dass sie Peter Taugwalder die Möglichkeit gegeben hätten, sich zu erklären, um sich so gegen verleumderische Anschuldigungen zu erwehren.
Wie ich den Aufzeichnungen entnehmen konnte, antwortete Peter Taugwalder Vater lediglich, dass er sich und Lord Francis in ein anderes Seil eingebunden hätte, da vom Seil des vorderen Teils der Seilschaft nicht mehr genügend übrig gewesen wäre. Er ist kein Mann grosser Worte und würde seine Antwort nur ausführen, wenn man ihn darum bäte. Wie gerne würde ich ihn dazu befragen! Aber der arme Kerl hat sich vollständig zurückgezogen, was angesichts des Getuschels im Dorf kaum verwunderlich ist.
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Sonntagnachmittag: Endlich durfte auch Whymper das Dorf verlassen
Vor seiner Abreise entlohnte Whymper die beiden Taugwalders für die Besteigung, beglich Lord Francis Douglas’ offene Rechnung im Hotel Mont Cervin und hinterliess Adam Reilly Geld für die Familie von Michel Croz. Sein Verhalten ist würdevoll, doch seine Zerrissenheit unübersehbar. Er ist noch so jung und dabei sieht er doch aus wie jemand, der gezwungen ist, von nun an sein Selbst und – so knapp dem Tode entronnen – seine Lebensanschauung von Grund auf zu überdenken.
Post 11
Montag, den 31. Juli 1865
Zermatt
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Was bisher geschah
Das Gerichtsverfahren zur Tragödie der Erstbesteigung des Matterhorns dauerte ganze zwei Tage bis zur Urteilsverkündung. Einzelheiten wurden keine bekanntgegeben, man hat lediglich festgestellt, dass es zu einem Unfall kam, als
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Was bisher geschah
Das Gerichtsverfahren zur Tragödie der Erstbesteigung des Matterhorns dauerte ganze zwei Tage bis zur Urteilsverkündung. Einzelheiten wurden keine bekanntgegeben, man hat lediglich festgestellt, dass es zu einem Unfall kam, als Douglas Hadow den Halt verlor und ausrutschte und dass das Seil, das ihn mit Michel Croz, Charles Hudson und Lord Francis Douglas verband, sie allesamt in den Tod riss. Whymper erhielt schliesslich die Erlaubnis, abzureisen.
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Geheimniskrämerei und Mutmassungen
Dank meiner guten Kontakte konnte ich einen Blick in die Protokolle der Vernehmungen werfen, jedoch scheint es nun, als ob die Unterlagen verschwunden wären, ganz so als ob sie nicht existierten. Whymper war äusserst aufgebracht als Herr Clemenz, der Gerichtsvorsitzende, sein Versprechen brach, ihm Einsicht in Peter Taugwalders Antworten zu gewähren. Ich fürchte, dass Whymper zu optimistisch war in seiner Annahme, diese Dokumente zu Gesicht zu bekommen. Ich darf meine privilegierten Informationen nicht allzu öffentlich machen, jedoch muss das Augenmerk auf die Fragen zum Thema der Seilauswahl gerichtet werden. Auch wenn es hierzulande keine gängige Praxis sein mag, so denke ich doch, dass bald schon Stimmen laut werden dürften, die eine Veröffentlichung der Aufzeichnungen verlangen. Es scheint mir, dass man den üblen Gerüchten, die bereits kursieren, mit einer öffentlichen Klarstellung leichter ein Ende bereiten könnte.
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Peter Taugwalders Wahl des Seils
Mir scheint es unwahrscheinlich, dass Peter Taugwalder Vater bewusst ein schwächeres Seil zwischen ihm und Lord Francis Douglas benutzt haben soll. Wo er doch erst zwei Wochen zuvor mit ihm am Gabelhorn unterwegs gewesen war. Würde er einen solch guten Gast zum Tode verurteilen? Ausserdem hatte die Truppe reichlich Seile dabei. Selbst wenn die Männer im vorderen Teil der Seilschaft eine ganze Seillänge benötigt hätten, so hatte er immer noch weitere verschiedene Seile zur Auswahl oder hätte dieses doppelt verwenden können. Er sagte, er befände dieses Seil als stark genug und ich denke, dass wir ihn deshalb nicht verurteilen dürfen. Und zwar aus folgendem Grund:
Vergangenen Montag traf der Marquess of Queensberry, Bruder des Lord Francis, in Zermatt ein. Beim Durchsehen der Habseligkeiten seines verstorbenen Bruders fand er einen Artikel, den Lord Francis über die Besteigung des Gabelhorns mit Taugwalder verfasst hatte. Als eine Wechte am Gipfel gebrochen war, waren sie nur knapp einer Katastrophe entkommen. Beide wären zu Tode gestürzt, hätte das Seil, das sie mit dem Bergführer Vianin aus Zinal verband, sie nicht gerettet. Es ist gut möglich, dass es dieselbe Art Seil war wie jenes, das am Matterhorn gerissen war. Sollte ein derartiges Seil erst kürzlich sein Leben gerettet haben, so scheint es kaum verwunderlich, dass der alte Peter Taugwalder ein derartiges Vertrauen in dessen Stärke hatte.
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Unendliche Trauer
Lord Francis’ Bruder ist völlig verstört in seinem Kummer und wir fürchten um seine Sicherheit. Vergangenen Freitag war er verschwunden. Reverend McCormick sandte einen Suchtrupp aus, der den Marquis hysterisch nach seinem Bruder rufend hoch oben am Hörnligrat fand, ganz so als ob er ihn noch irgendwo lebend auf einem Felsvorsprung hätte finden können. Die ganze Nacht war er umhergeirrt und es gleicht einem Wunder, dass er nicht selbst den Tod an diesem unerbittlichen Berg gefunden hat.
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Auch Jean-Baptiste Croz ist fast wahnsinnig vor Kummer; er war hergekommen, um die Habseligkeiten seines Bruders Michel entgegenzunehmen. Laut beklagt er den Verlust seines tapferen Bruders und den herben Schlag, den dieser für die gesamte Familie bedeutet. Ich weiss, dass auch Whymper diesen Verlust zutiefst betrauert. Michel Croz war charakterlich ebenso stark wie er es körperlich war. Edward Whymper und er waren weniger Bergführer und Gast am Berg, vielmehr waren sie wie Brüder. Jean-Baptiste ist gestern nach Chamonix zurückgekehrt und ich fürchte schon die Anschuldigungen gegen die Taugwalders, die auch in diesem Dorf laut werden dürften. Die bereits manifesten Spannungen zwischen den Bewohnern dieser beiden Bergdörfer werden dadurch wohl kaum nachlassen.
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Die Aufruhr erreicht London
Die Debatte unter den Mitgliedern unseres Alpine Clubs konzentriert sich auf die bergsteigerischen Fehler, die zum Misstritt Hadows geführt haben. Whympers Zurückhaltung zu den Geschehnissen lässt viel Raum für die phantasievollsten Spekulationen. Im Leitartikel der Times wird die tragische Verschwendung von Menschenleben bei derartigen Abenteuern in den Bergen aufs Schärfste kritisiert. Und die vom Spektakel des gewaltsamen Todes gebannte Öffentlichkeit redet mit, insbesondere – so wage ich zu behaupten – da ein Mitglied einer Adelsfamilie und ein angesehener Geistlicher zu den Toten zählen.
Diese Berge halten mich nicht länger
Da ich diese tragischen Ereignisse jedoch so hautnah miterlebt habe, werde ich stets ein offenes Ohr für jegliche Informationen haben, welche die Lücken schliessen könnten. Sicherlich wird alsbald der Bericht der Untersuchung veröffentlicht und genauestens geprüft werden oder es kommen weitere Beweise ans Licht. Ich vermute, man wird noch viele Jahre lang über die Ereignisse am Matterhorn im Juli 1865 sprechen.